Westfalen – Am kommenden Donnerstag (13.8.) ist es wieder soweit: Im bevölkerungsstärksten Bundesland öffnen die Schulen für die Erstklässle. Gut zu erkennen sind die Schulneulinge an den bunten Zuckertüten, die sie im Arm halten. Über die Geschichte der Schultüten werden sie sich an diesem aufregenden Tag allerdings wohl keine tieferen Gedanken machen. Sie interessieren sich mehr für den mehr oder weniger süßen Inhalt. „Dabei ist die Schultüte ein überaus spannendes kulturelles Zeichen“ weiß Christiane Cantauw, Volkskundlerin beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL).
„Als es in Thüringen und Sachsen bereits gang und gebe war, die Schulneulinge mit einer Schultüte auszustatten, erhielten die Erstklässler in Westfalen allenfalls ein süßes Brötchen, einen Apfel oder – wenn es hoch kam – eine Tafel Schokolade zum Schulanfang. Und nicht nur das, rund um die Schultüte rankt sich im Osten Deutschlands bis heute ein reges Brauchgeschehen: Die erste Schultüte gibt es dort oft schon am Ende der Kindergartenzeit. Und dass ein Kind zum Schulbeginn nur eine Zuckertüte erhält, ist eher die Ausnahme“, erläutert die Wissenschaftlerin von der Volkskundlichen Kommission.
Erste schriftliche Belege für Zuckertüten liegen aus dem Thüringer Wald (1801), Jena (1817) und aus Dresden (1820) für die Zeit um 1800 vor. Große Verbreitung hat der Brauch aber nicht zuletzt durch ein Kinderbuch gefunden: In dem von Moritz Heger verfassten „Zuckertütenbuch für alle Kinder, die zum ersten Mal in die Schule gehen“ von 1852 heißt es, dass es im Keller der Schule einen Zuckertütenbaum gebe, von dem der Lehrer den braven Schülern eine Tüte abpflücke.
In Westfalen erwiesen sich wohl vor allem die Zugereisten als Wegbereiter der Schultüte. „Seit den 1930er Jahren mehren sich auch hier die Belege für Zuckertüten zum Schulstart. Das Abpflücken der Schultüten von einem Zuckertütenbaum oder das Verteilen ihres Inhalts an Nachbarskinder blieb hier in Westfalen aber ebenso unbekannt wie große familiäre Feiern zum Schuleintritt oder eine Konkurrenz um die größte und schwerste Zuckertüte“, wundert sich Cantauw. Bis in die 1960er Jahre sind die meisten Berichte über Einschulungen aus Westfalen eher ernüchternd: „Es war keine große Einführung.“ Schultüten gab es nicht, auch keine anderen Geschenke, heißt es über eine Einschulung 1923 in Detmold, und 1947 sah es in Bottrop – nicht nur kriegsbedingt – nicht viel besser aus: „Schultüte oder Geschenke gab es nicht.“
Dass dem Schuleintritt eine zunehmende Bedeutung beigemessen wird, lässt sich erst seit wenigen Jahrzehnten beobachten. Mittlerweile ist es aber durchaus üblich, dass Paten, Großeltern, Tanten und Onkel an den Feierlichkeiten in der Schule und einer nachfolgenden familiären Feier teilnehmen. „Auch die finanziellen Aufwendungen für die Erstausstattung der Schulneulinge und für Geschenke zum Schuleintritt weisen darauf hin, dass diesem Übergangsritual auch in Westfalen mehr und mehr Bedeutung beigewessen wird. Schule ist längst keine lästige Pflicht mehr, sondern die Eintrittskarte in ein ‚gutes Leben‘. Entsprechend wichtig werden Schulbeginn und Schulende genommen“, resümiert Christiane Cantauw.