LWL-Traumaexperten helfen, die Schreckensbilder zu überwinden
Marsberg – Am 24. Juli jährt sich die Duisburger Loveparade-Katastrophe zum fünften Mal. Die juristische Aufarbeitung dauert an. Mit dem traurigen Jubiläum des Tages, an dem 21 junge Menschen in drangvoller Enge den Tod fanden und fast 600 zum Teil schwer verletzt wurden, sind auch die Bilder und Medienberichte wieder allgegenwärtig. Eine Entwicklung, die Dr. Alexandra Dittmann-Balcar sehr kritisch sieht: „Wenn sämtliche Medien nun wieder über die Katastrophe berichten, kann das durchaus dazu führen, dass bei Überlebenden und Angehörigen die schrecklichen Erinnerungen wieder hochkommen“, sagt die Traumatherapeutin aus der Institutsambulanz des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) in Marsberg.
Gerade darum, solche Erinnerungen möglichst schnell zu verarbeiten, geht es in der Traumatherapie. Anders als niedergelassene Ärzte und Therapeuten können Traumaambulanzen wie in Marsberg in der Regel innerhalb von 24 bis 72 Stunden nach dem belastenden Ereignis ein erstes Gespräch anbieten. „Betroffene müssen nicht erst wochen- oder gar monatelang auf einen Therapieplatz oder -termin warten“, sagt Dittmann. „Das ist unsere große Stärke.“ Denn gerade in den ersten Stunden, Tagen und Wochen nach einem Unglück oder einer Gewalttat sei es wichtig, die Selbstheilungskräfte der Betroffenen zu aktivieren und zu unterstützen.
Betroffene haben Sorge, den Verstand zu verlieren
Angesichts von Schock und Trauer machen viele Opfer und Hinterbliebene die Erfahrung eines völligen Kontrollverlusts – plötzlich ist nichts mehr so, wie es einmal war. „Die Betroffenen haben Sorge, den Verstand zu verlieren“, sagt Dittmann. „Sie kennen sich selbst nicht mehr.“ Das sei eine der schlimmsten Vorstellungen für einen erwachsenen Menschen, dessen Wesen sich gerade darauf gründet, Situationen stets auf irgendeine Art und Weise kontrollieren zu können. Erstes Ziel der Akuttherapie in Traumaambulanzen ist es daher, Betroffenen dabei zu helfen, ihre körperlichen und psychischen Reaktionen wie Herzrasen, Unruhezustände und Konzentrationsschwierigkeiten als eine normale Reaktion auf ein belastendes Ereignis einzuordnen.
Gravierende Folgen unverarbeiteter Traumata
Den meisten Menschen gelingt es, traumatische Ereignisse zu verarbeiten – auch dank der Unterstützung durch Freunde und Familie. Bei anderen dauert das Leiden an. Und es verändert sich. „Kurz nach dem Schlüsselereignis stehen die körperlichen Reaktionen und der Schock im Vordergrund“, erklärt Dittmann. „Wird eine Situation jedoch nicht verarbeitet, genügen später oft kleinste Auslöser wie Gerüche oder Geräusche, damit die Patienten die Situation wieder und wieder durchleben müssen.“ Die wummernden Bässe von Technomusik, große Menschenmengen, Tunnel. „Betroffene versuchen zunehmend, alles zu vermeiden, was sie an die Situation erinnert. Gelingt das nicht, läuft häufig der ganze Traumafilm in der Erinnerung wieder ab.“ Die Folge: Ängste und Depressionen, Suchterkrankungen, Arbeitsunfähigkeit und körperliche Folgeschäden wie Herzerkrankungen.
Traumaambulanzen als erste Anlaufstelle
In Einrichtungen wie der LWL-Traumaambulanz in Marsberg versuchen Therapeuten deshalb, das Entstehen einer solchen Posttraumatischen Belastungsstörung von vorneherein zu verhindern. Jeder, der Opfer eines Unfalls, einer Gewalttat oder einer Katastrophe wie in Duisburg ist, hat hier eine erste Anlaufstelle. Dem einen helfen bereits zwei bis vier Therapiesitzungen, andere werden über Monate begleitet.
Die Ansicht, dass ein Gerichtsverfahren etwa den Hinterbliebenen der Loveparade-Opfer helfe, die traumatische Erfahrung zu verarbeiten, teilt Dittmann nur bedingt. „Wenn jemand vor fünf Jahren in Duisburg sein Kind verloren hat, dann geht es ihm in erster Linie häufig darum, Gewissheit über die letzten Minuten zu bekommen“, sagt sie. „Auch mit der Hoffnung, dass das Kind nicht leiden musste.“ Ein Prozess würde wohl kaum Antworten auf diese Frage bringen können. „Da geht es eher um Verantwortlichkeiten und Planungsfehler.“ Und wer damals selbst vor Ort gewesen sei, der laufe immer wieder Gefahr, durch Bilder, Ton- und Videoaufnahmen von Erinnerungen überwältigt zu werden, die er vorher im Alltag schon gut verarbeiten konnte.
Hintergrund
Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) betreibt ein Netz von 12 Traumaambulanzen in Bochum, Dortmund, Hamm, Herten, Höxter, Iserlohn, Marsberg, Meschede und Paderborn. In Dortmund, Hamm und Marsberg werden auch Kinder und Jugendliche behandelt. Darüber hinaus gibt es in Westfalen-Lippe noch acht derartige Einrichtungen in anderer Trägerschaft. Dort halten sich ärztliche und psychologische Fachleute wie Dr. Alexandra Dittmann-Balcar bereit. Sie leisten die psychiatrische Versorgung nach individuellen Traumata wie Vergewaltigungen oder Unfällen, aber auch nach so genannten Großschadenereignissen wie der Loveparade-Katastrophe oder zuletzt dem Marsberger Schützenfest-Unglück. Die Finanzierung der Behandlung übernehmen meistens die Krankenkassen, bei Arbeitsunfällen die Berufsgenossenschaften. Für Opfer von Gewalttaten trägt nach dem NRW-Opferentschädigungsgesetz in der Regel das LWL-Versorgungsamt die Kosten.
Text: lwl