In einer Stellungnahme fordert die Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO) eine Ende der sozialen Isolation in Pflegeheimen:
Die Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 in Deutschland seit Anfang März 2020 und die damit verbundenen Risiken für den Einzelnen und das Gesundheitssystem haben Bund und Länder veranlasst, eine Vielzahl von Freiheitseinschränkungen zu verfügen, was von einer großen Mehrheit der Bevölkerung begrüßt und mitgetragen wurde. Besonders schutzbedürftig waren und sind – aufgrund ihres vielfach sehr hohen Alters und einer damit häufig einhergehenden Multimorbidität – Menschen, die in Pflegeheimen leben. In einzelnen Fällen kam es zu Ausbreitungen des Coronavirus innerhalb von Einrichtungen mit einer großen Zahl an Sterbefällen. Ein wichtiger Grund für die schnelle Ausbreitung innerhalb der Einrichtung dürfte sein, dass Schutzkleidung für das Personal von Beginn an Mangelware war.
Zum Schutz vor solchen Infektionsketten und ihren verheerenden Folgen wurden deshalb in allen Bundesländern Besuchsverbote bzw. Besuchsbeschränkungen verhängt, zum Teil auch Ausgangssperren für Bewohnerinnen und Bewohner. Die Regelungen sind sehr unterschiedlich. So lassen Berlin und Thüringen Besuche von Angehörigen in einem begrenzten Rahmen zu, in Rheinland-Pfalz haben zumindest Ehe- und Lebenspartner sowie rechtliche Betreuer und Bevollmächtigte zeitlich eingeschränkten Zugang. In allen anderen Ländern sind die Besuchsverbote umfassend, Ausnahmeregelungen beziehen sich meist nur auf Menschen in der Sterbephase. Selbst dies wird teilweise in das Ermessen der Einrichtungen gestellt, so dass in nicht wenigen Fällen auch eine Sterbebegleitung durch engste Angehörige verwehrt wurde. In 13 Bundesländern wird seit nunmehr sechs Wochen engsten Familienmitgliedern der persönliche Kontakt untersagt, in Nordrhein-Westfalen ist dieses Kontaktverbot sogar mit einem Bußgeld bewehrt.
Auch der Kontakt der Bewohnerinnen und Bewohner untereinander wurde eingeschränkt und zum Teil über längere Zeit vollständig verwehrt; Bewohnerinnen und Bewohner wurden zum Teil angehalten, den ganzen Tag auf ihren Zimmern zu bleiben und dort auch ihre Mahlzeiten einzunehmen. Bewegungs- und andere Therapieangebote wurden zum Teil auf Null zurückgefahren. Positiv hervorzuheben ist, dass sich nach unserem Eindruck viele Einrichtungen, zum Teil gemeinsam mit externen Akteuren, in vorbildlicher Weise bemüht haben, einen Ausgleich für die fehlenden persönlichen Kontakte zu organisieren – von der vorübergehenden Beschäftigung von Bundeswehrsoldaten als „Zivis auf Zeit“ über die Organisation von Videotelefonie, Balkongesprächen, Postkartenaktionen oder Hofkonzerten bis hin zur Einrichtung eines „Abschiedsraumes“ in Eingangsnähe, um eine würdige Begleitung Sterbender zu ermöglichen.
Dieses Engagement von Einzelnen ändert aber nichts daran, dass die Regelungen, die hier von den Bundesländern getroffen wurden und werden, mit Abstand die schwersten Grundrechtseingriffe in der
gesamten Corona-Situation darstellen. Betroffen sind die Freiheitsrechte nach Art. 2 GG, der Schutz von Ehe und Familie gem. Art. 6 GG, sowie – ganz besonders mit Blick auf die Möglichkeit der Begleitung Sterbender – die Menschenwürde nach Art. 1 GG. In Fachkreisen ist zudem unbestritten, dass die ergriffenen Maßnahmen, die das Leben der Menschen schützen sollen, zugleich eine erhebliche gesundheitliche Gefahr für viele Bewohnerinnen und Bewohner darstellen. Sie bauen körperlich sehr schnell ab, weil ihre Angehörigen häufig Teil des Pflegesettings sind (sich z.B. um eine ausreichende Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme kümmern) oder weil sie sich nicht mehr ausreichend bewegen. Und das erzwungene Alleinsein ist für viele Bewohnerinnen und Bewohner schwer erträglich bis hin zur klinischen Depression. Hier gilt es, die eine Gesundheitsgefahr sorgfältig gegen die andere Gesundheitsgefahr abzuwägen.Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass Menschen, wenn sie ins Pflegeheim kommen, im Schnitt eine verbleibende Lebenserwartung von nur zwei Jahren haben.2 Die von unseren Mitgliedsverbänden gesammelten zahlreichen Schilderungen von Angehörigen machen die verzweifelte Lage der Betroffenen deutlich.3 Auch die BAGSO erhält zahlreiche Zuschriften, alle mit demselben Tenor, den ein 92-Jähriger so formulierte: „Man hat uns vergessen.“
Regelungen, die für vier oder sechs Wochen gedacht und entsprechend drastisch waren, können und dürfen jetzt nicht unverändert fortgesetzt werden. Wir begrüßen daher die Entscheidung von Bund und Ländern vom 15. April 2020, dass dafür Sorge zu tragen ist, dass „entsprechende Regularien nicht zu einer vollständigen sozialen Isolation der Betroffenen führen dürfen“.4 Der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus, hat am 25. April 2020 zu Recht kritisiert, dass einige Länder den Beschluss in diesem Punkt nicht umgesetzt haben, und zu Nachbesserungen aufgefordert.
Wir stimmen dem uneingeschränkt zu und sehen folgende Maßnahmen als besonders dringlich an:
1. Alle 16 Bundesländer müssen den Beschluss vom 15. April 2020 schnellstmöglich umsetzen und die zu diesem Thema erlassenen Verordnungen und Allgemeinverfügungen anpassen. Sie müssen den Verantwortlichen vor Ort klare Anweisungen geben und Hilfestellung, soweit diese nicht aus eigener Kraft angemessen handlungsfähig sind.
2. Im Hinblick auf die zu erwartende Dauer der Beschränkungen muss – natürlich unter strengen Hygieneauflagen – ein gewisses Maß an persönlichen Kontakten
3. Die Entscheidung, ob Bewohnerinnen und Bewohner von ihren Angehörigen besucht werden dürfen, darf nicht weiter im Ermessen der Einrichtungen stehen. Auch für die Häufigkeit und Dauer des persönlichen Kontakts muss es Mindestanforderungen geben. Das gilt in ganz besonderer Weise für demenziell erkrankte Bewohnerinnen und Bewohner, für die Telefonieren und Skypen keine Alternativen sind.
4. Zu prüfen ist, ob eine Verringerung von Belegungskapazitäten größere Spielräume für soziale Kontakte schaffen kann. Die Deutsche Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie (DGGG) hält es für denkbar, mobile Bewohnerinnen und Bewohner vorübergehend in Reha-Einrichtungen oder zurzeit nicht genutzte Hotels zu verlegen.5 Im Falle demenziell erkrankter Menschen dürfte eine erneute räumliche Veränderung problematisch sein, aber das kann und muss in jedem Einzelfall mit den Betroffenen und ihren Angehörigen besprochen werden. BAGSO-Stellungnahme Soziale Isolation von Menschen in Pflegeheimen beenden!
5. In der Phase des Sterbens darf es allenfalls eine Festlegung der Besucherzahl geben, ansonsten jedoch keine Beschränkungen. Einige Länder haben bereits entsprechende Öffnungsklauseln; auch hier darf die Entscheidung nicht länger im Ermessen der Einrichtung stehen. Denn es geht um den Schutz der Menschenwürde. Alle Einrichtungenmüssen Lösungen finden, die sicherstellen, dass Partner und Kinder bei ihren Angehörigen sein können, wenn deren Leben zu Ende geht.
6. Ein Kontakt zu den Angehörigen per Telefon oder Internet ist eine flankierende Maßnahme, die vielen Betroffenen in den ersten sechs Wochen geholfen hat. Dies hat verdeutlicht, wie dringend Einrichtungen mit WLAN und mobilen Endgeräten ausgestattet werden müssen. Diese Möglichkeiten können den persönlichen Kontakt auf Dauer aber nicht ersetzen und sie sind auch nicht für alle Bewohnerinnen und Bewohner geeignet.
7. Auch die ärztliche und therapeutische Versorgung muss gewährleistet sein. Der Grundsatz einer aktivierenden Pflege gilt auch in Zeiten von Corona.
8. Bund und Länder stehen in der Pflicht, schnellstmöglich für eine angemessene Ausstattung der Einrichtungen mit Schutzkleidung und weiteren benötigten Materialien zu sorgen und, soweit Lockerungen nur unter der Voraussetzung regelmäßiger Testungen von Angehörigen zugelassen werden, die notwendigen Testkapazitäten sicherzustellen.
9. Angehörige mit Bußgeldern zu bedrohen, weil sie ihre Liebsten sehen möchten, halten wir für mehr als unangemessen.
10. Alle freiheitseinschränkenden Regelungen sind zu befristen, um sicherzustellen, dass deren Verhältnismäßigkeit regelmäßig überprüft wird.“
Quelle: BAGSO – Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen e.V.