Wenn sich Annick Heijboer (24) einen Kerl zur Brust nimmt, wird auch der überheblichste Macho plötzlich ganz kleinlaut
Burbach/Breitscheid (jh) – Es kommt schon vor, dass Kunden, zumindest die männlichen, sie anfangs nicht ganz für voll nehmen. Vor allem dann, wenn sie die kleine, zierliche Frau um Haupteslängen überragen. Aber spätestens, wenn sich, bitte aussteigen, dann in 4000 Metern über Grund die Flugzeugtüre öffnet, wird auch der überheblichste Macho plötzlich ganz kleinlaut. Eine Situation, die Annick Heijboer schon wiederholt erlebt hat. Die 24-Jährige ist eine der ganz wenigen am Himmel Deutschlands operierenden weiblichen Tandemmaster. Zwischen Kiel und Konstanz, Aachen und Bitterfeld gibt es allenfalls eine Handvoll Damen, die sich diesen harten, körperlich anstrengenden und verantwortungsvollen Job antun. Die gebürtige Niederländerin erledigt diesen mit Verve und nicht nachlassender Begeisterung für und im Namen ihrer Freunde von „Skydive Westerwald“ und „Springwerk“ auf und über dem Siegerlandflughafen und im benachbarten Breitscheid.
Lässt es der Studienplan zu, steht die angehende Kinderpsychologin mit kleinem Gepäck und großem Passagierschirm auf der Lippe auf der Matte. In den Sommermonaten sind ihre Wochenenden dahingehend fix. Keine Lust auf und Zeit für anderweitige Vergnügungen. Fallschirmspringen, das ist es, was zählt. Was sind da schon zweieinhalb Stunden Autobahnfahrt von Enschede ins Siegerland, wenn als Belohnung die Erfüllung einer Passion winkt. Hier und auf der „Hub“, der bedeutendsten „Dropzone“ im Dreiländereck zwischen Hessen, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen, hat das sympathische Meisje ein (luft-)sportliches Zuhause gefunden.
Erst unterschätzt, dann respektiert
Dass man(n) sie unterschätzt, daran hat sich die lizensierte Sprunglehrerin (längst) gewöhnt. Damit kommt sie klar. Und im Umgang mit, sagen wir mal, etwas komplizierter gestrickten Gästen, dürfte ihr für den angehenden Beruf erworbenes theoretische Rüstzeug zumindest nicht nachteilig sein. Etwas Psychologie im Dialog mit vor einer Grenzerfahrung stehenden Menschen kann nicht schaden.
Der 1,85-Meter-Kerl blickte ungläubig auf sein Gegenüber hinunter. „Mädel, bist Du Dir auch ganz sicher?“ Eine gar nicht einmal böse oder abschätzig gemeinte Frage, die der staunende Recke, um ganz sicher zu gehen, später im Flugzeug noch zweimal wiederholen sollte. Der Größenunterschied zwischen den Beiden war denn auch krass, was ein Gespräch auf Augenhöhe zunächst einmal schwierig machte. Aber wo ein Wille, da auch ein Dialog. Hier der 90-Kilo-Hühne, dort die von den Zehenspitzen bis zum Scheitel der dunkelbraunen Haare gerade mal 163 Zentimeter messende Maid, die lediglich schlappe 60 Kilo auf die Waage bringt. Der Bursche verstand die Welt nicht mehr, wollte sie aber später, mit Adrenalin vollgepumpt und um eine einzigartige Erfahrung reicher, nach der Landung in Gänze umarmen – die junge Frau inklusive. Tat er dann auch.
So wie ihm geht es in Breitscheid vielen. Unter den Kollegen genießt der Holland-Export sowieso uneingeschränkte Hochachtung. Einer Einladung von Ausbildungsleiter Dirk Rewald folgend, hat sich die Dame hier seit ihrem Dienstantritt im Frühjahr 2013 durch Professionalität und Besonnenheit den Respekt aller erworben und ist längst fest integrierter Bestandteil des Teams.
Auf der Lippe ist die Niederländerin die Frau für alle Fälle
Und Annick ist auf Siegerland die Frau für alle Fälle, auch für die schwierigen. Denn auch auf einem Flugplatz treffen die Kulturen schon mal aufeinander. Da war diese junge Albanerin aus Netphen, die sich mit einem Tandemsprung, Videobegleitung inklusive, einen Lebenstraum erfüllte. Doch dann fiel Elmedina G., die im Gegensatz zu ihrer Verwandtschaft längst im aufgeklärten 21. Jahrhundert angekommen ist, auf und ein, dass sie den Film ja unmöglich ihren rigiden Moralvorstellungen anhaftenden Eltern, konservativen Muslimen, würde zeigen können. Ihre Tochter, angegurtet an einen fremden Mann und in Tuchfühlung mit diesem, das geht schon mal gar nicht. Also, Klappe, die Zweite. Neuer Versuch, diesmal mit Frau Heijboer als Tandemmasterin. Und so konnten beide ganz entspannt und freudig in die Kamera grinsen, während Freifallkameramann „Seppl“ Lauber den weiblichen Doppelpack ins Visier nahm.
Frauen sind im Fallschirmsport längst etabliert und haben sich durch außergewöhnliche Leistungen einen festen Platz zwischen Himmel und Erde erkämpft. Aber auf den Gedanken, sich als Tandemmaster(in) zu verdingen, kommen nur wenige. Die junge Niederländerin, auf ihrer damaligen Homebasis als Sprunglehrerin tätig, hatte dort bereits wiederholt als „Versuchskaninchen“ bei der praktischen Ausbildung künftiger Passagierspringer ausgeholfen. Diese müssen auf jede noch so kritische Situation vorbereitet sein und entsprechend reagieren können. Beispielsweise dann, wenn sich der Sprunggast völlig „unkooperativ“ verhält, während des freien Falls in Panik gerät und/oder unkontrolliert und wild mit Händen und Füßen um sich schlägt und tritt. Diesen Part hatte Annick wiederholt übernommen und, zum Leid der „Azubis“, ziemlich authentisch ausgefüllt. Dann reifte in ihr der Entschluss, das Ganze auch mal von der anderen Seite des Tisches kennen zu lernen. Sie belegte einen Ausbildungslehrgang, erwarb die entsprechende Tandem-Lizenz und ist dabei geblieben.
Es darf auch mal ein flotter Vierer sein
Für eine passionierte Skydiverin wie Annick Heijboer, die seit 2007 in bzw. an den Seilen hängt und in deren persönlichem Sprungbuch inzwischen weit über 1400 Einträge stehen, gibt es aber noch mehr zwischen Himmel und Erde, als, angegurtet an einen Gast, der Erde entgegen zu rasen. Ein flotter Vierer darf es hin und wieder auch mal sein. So zählt das Formationsspringen im Quartett zu den von ihr bevorzugten Disziplinen. Aber auch als Freifall-Kamerafrau macht die Lady aus dem Land der Tulpen und Wildmühlen eine gute Figur. Für den Fall, dass man ihr dabei begegnet, einfach lächeln und freundlich winken…
Anspruchsvolle Ausbildung für einen schwierigen Job
Die Ausbildung zum Tandemmaster ist ziemlich anspruchsvoll, das Auswahlverfahren streng. Grundvoraussetzungen, um überhaupt dafür zugelassen zu werden, ist u.a. eine Lehrberechtigung als Sprunglehrer. Darüber hinaus müssen die Kandidaten mindestens 500 Sprünge und eine Freifallzeit von fünf Stunden nachweisen. Das ist eine ganze Menge, wenn man/frau bedenkt, dass die Zeit des freien Falls bei einem Absprung aus 4000 Metern Höhe im Mittel gerade mal 60 Sekunden beträgt – eher weniger. Dafür, um diese Marke zu erreichen, muss eine Oma lange stricken und ein Springer noch öfter aus dem Flugzeug hopsen.
Die körperlichen Belastungen sind auch nicht ohne. Ein Tandemcaptain muss ja nicht nur für zwei denken, sondern auch für zwei handeln. Und er muss die nicht unerheblichen Kräfte, die auf beide einwirken, kompensieren. Das ist vor allem bei der Landung der Fall. Beim Tandemspringen gilt ein Gewichtslimit von 90 Kg pro Gast. Den gültigen Richtlinien zufolge darf das Gesamtpaket, also Springer, Passagier, Schirm und Gurtzeug nicht mehr als 225 Kilogramm auf die Waage bringen. (jh)