Bedürftigkeit mitten unter uns: Sechs Stationen in der Friedrichstraße als Fallbeispiel
Siegen – „Auch wenn Armut hier nicht offensichtlich zu erkennen ist, so ist sie doch unter uns“, betonten Iris Jänicke von den Diakonie Sozialdiensten und Günter Hensch vom Institut für Kirche und Gesellschaft. Beide organisierten einen „Stadtspaziergang“. Mit 25 Teilnehmern ging es auf die Spuren der Armut am Beispiel der Friedrichstraße.
Ab der Begegnungs- und Beratungsstelle „Gegenüber“ lief die Gruppe sechs Stationen an. Überall referierte ein Experte über ein spezielles Thema zur „Armut“.
In den vergangenen 12 Monaten baten 114 Prostituierte aus dem Kreis Siegen-Wittgenstein um Hilfe. „Meist handelte es sich dabei um Bulgarinnen und Rumäninnen, die mit ihren Einnahmen auch ihre Familien in den Herkunftsländern unterstützten“, so Erika Denker, Vorsitzende der evangelischen Frauenhilfe. „Diese Frauen kennen meist keine Alternative im Kampf ums Überleben“, betonte die Referentin.
Ein „Kampf“ ist wohl auch die Textilbranche für viele Arbeiter aus Ostasien, Lateinamerika oder Osteuropa. In der Nähe eines Bekleidungs-Geschäfts erfuhr die Gruppe, dass 90 Prozent der Waren einiger Textilhandelsunternehmen aus den genannten Regionen importiert werden. Die Löhne der dortigen Textilarbeiter liegen unter der Armutsgrenze. „Ein Beschäftigter in Bangladesch verdient 24 Dollar im Monat“, so Elisa Heinrich, Koordinatorin für entwicklungspolitische Bildungsarbeit. Unbezahlte Überstunden müssten die Arbeiter dulden, weil sie sonst gekündigt oder misshandelt würden.
Beim nächsten Stopp lernten die Teilnehmer Streetworker Stefan Weskamp vom katholischen Jugendwerk Förderband Siegen-Wittgenstein kennen, der täglich Jugendlichen mit Suchtproblemen begegnet. Manche konsumierten Mengen an Alkohol, weil sie keinen Sinn in ihrem Leben sehen. Weskamp und sein Team beraten und beschäftigen junge Menschen, damit sie wieder eine Perspektive entwickeln. Auch Migranten haben es schwer auf dem Arbeitsmarkt. So seien sie doppelt so häufig von Armut betroffen als Deutsche, informierte Dorothee Kahm von der Integrationsagentur der Diakonie Sozialdienste.
Wo sich Menschen mit kleinem Geldbeutel einkleiden können, erfuhr die Gruppe im Kleiderladen der evangelischen Frauenhilfe. Dort gibt es von Klamotten über Schuhe, Haushaltswaren bis hin zu CDs und Büchern gute Waren für wenig Geld. „Wir verlangen keinen Nachweis der Bedürftigkeit. Die Mehrzahl unserer Kunden hat jedoch geringes Einkommen“, so Ladenleiter Reinhold Haas. Umkleidekabinen sowie eine Spielecke für Kinder erleichtern den Einkauf auf 220 Quadratmetern.
Auch elterliche Scheidung oder ein Todesfall führen zu Armut. „Perspektivlosigkeit, ein geringes Selbstwertgefühl sowie Alltagsfluchten in die Medienwelt sind die Folgen“, so Kerstin Kubik von der Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern der evangelischen Jugendhilfe Friedenshort. Suchtberater Herbert Kramer von den Diakonie Sozialdiensten referierte bewusst an einem nahegelegenen Spielplatz: „An einem Ort wie diesem treffen sich Menschen, die häufig Trost im Alkohol suchen.“
Hensch ergänzte ein Thema, welches auf den selbigen Standort zutrifft: Tagelöhner. Also Menschen, die mit einem Bus aus größeren Städten kommen und für einen Tag Arbeit suchen. Unter anderem arbeiten sie auf dem Bau oder mähen Rasen. „Nachmittags gegen 16 Uhr kann man dann in Siegener Supermärkten sehen, wie diese Männer ihren Tageslohn in Lebensmittel umsetzen“, erläuterte Hensch.
Vielen Teilnehmern eröffneten sich während des Rundgangs neue Perspektiven. Abschließend zeigten Volker Gürke (Diakonie in Südwestfalen), Jänicke und Hensch Möglichkeiten auf, wie sich jeder einzelne auch ehrenamtlich zugunsten hilfesuchender Menschen engagieren kann.